Evotec SE
CEO Interview
Interview mit Dr. Werner Lanthaler, Evotec SE (November 2021)
Lanthaler: Für uns ergibt es Sinn, unsere operative Aufstellung als global agierendes Unternehmen auch mit einem US-Listing abzubilden. Nordamerika ist und bleibt der größte Pharmamarkt der Welt. Wir arbeiten seit vielen Jahren in verschiedenen umfangreichen Partnerschaften mit US-amerikanischen Pharma- und Biotechunternehmen, aber auch Stiftungen und akademischen Institutionen zusammen. Mit dem Bau unserer ersten biopharmazeutischen Produktionsanlage, dem J.POD® in Redmond, Washington hat sich unsere operative Aufstellung nochmals deutlich vergrößert. Durch das Sekundär-Listing an der NASDAQ rücken wir ein Stück näher an einige unserer größten und wichtigsten Partner heran.
Zu den Themen, die über das eingeworbene Geld aus dem Listing weiter vorangetrieben werden soll, gehört auch die Präzisionsmedizin. Warum gilt dieser Bereich als Medizin der Zukunft?
Lanthaler: 90% der heute verfügbaren Medikamente wirken nur bei etwa 50% der Patient:innen, die sie einnehmen. Das ist angesichts der Möglichkeiten der modernen Medizin ein absolut inakzeptabler Zustand. Stellen Sie sich vor, nur jedes zweite Auto und jedes zweite Handy würde funktionieren – undenkbar, aber genauso ist es mit den allermeisten Medikamenten. Viele Krankheitsbilder wurden in der Vergangenheit von einer möglichst allgemeinen Symptomatik her beschrieben. Das war früher zeitgemäß – doch in Zeiten moderner Sequenzierungstechniken, mit denen sich der komplexe menschliche Organismus viel detaillierter erfassen lässt, ist es das nicht mehr. Nehmen Sie beispielsweise chronische Nierenerkrankungen. Nach der Sequenzierung tausender Patient:innenproben wissen wir heute, dass es sich hierbei eigentlich um einige Hundert verschiedene Krankheitsbilder handelt. Natürlich kann die Antwort auf eine so heterogene Indikation nicht der gleiche Wirkstoff für alle Patient:innen sein. Und dann wird auf einmal klar, warum der Nachweis einer klinischen Wirksamkeit in der Vergangenheit genau mit diesem Ansatz häufig nicht gelungen ist – obwohl die Forschungshypothesen für Subkohorten mit speziellen Ausprägungen dieser Krankheit durchaus valide gewesen wären. Für personalisierte Medizin müssen wir unser Verständnis von Krankheit und Gesundheit vom Kopf auf die Füße stellen. Das heißt: weg von der Symptomatik und hin zu einem soliden Datenfundament. Nur so wird es uns gelingen, die Früherkennung von Krankheiten dramatisch zu verbessern und mit wirklich wirksamen therapeutischen Interventionen an der Ursache einer Erkrankung anzusetzen.
Welche Technologien (KI, Gen- und Zelltherapie, mRNA) spielen hier eine Rolle und wie positioniert sich Evotec in diesem Feld?
Lanthaler: Alle Technologien der modernen Wirkstoffforschung und -entwicklung und alle therapeutischen Modalitäten sind in der Präzisionsmedizin essentiell. Das Wichtigste ist die Integration der verschiedenen Technologien auf einer gemeinsamen Plattform. Nur so erreichen Sie wirkliche Multimodalität – also eine Offenheit für diejenige therapeutische Option, die wirklich am besten geeignet ist. Das Rückgrat einer solchen Plattform ist die ständige Anreicherung der Datenbasis – und ihre immer bessere Ausnutzung entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Genau so versteht sich Evotec: Wir sind die Plattform für alle Technologien, zur Erforschung, Entwicklung und zur Herstellung der Präzisionsmedizin der Zukunft. Deshalb wollen wir auch mit möglichst vielen und möglichst unterschiedlichen Partnern zusammenarbeiten. Trotzdem agieren wir nicht als Steigbügelhalter, sondern wir werden über das Modell des „Co-Ownings“, also die Beteiligung an unseren Forschungsprojekten auch direkt am potenziellen Erfolg unserer eigenen Arbeit beteiligt.
Was sind die größten Herausforderungen bei der Umsetzung einer daten- und technologiegetriebenen Präzisionsmedizin?
Lanthaler: Wie zu Beginn jeder großen technologischen Transformation muss zu Anfang Energie, Arbeit – und auch Kapital aufgewendet werden, ohne dass ein unmittelbarer geldwerter Nutzen dabei entsteht. Es beginnt beim Lehrbuch an der Universität und endet in der Zulassungsbehörde: Der gesamte Prozess ist auf das alte Paradigma ausgerichtet und muss sich erst den neuen Gegebenheiten anpassen. Diese Arbeit zur Überwindung dieser „institutionellen Rigiditäten“ ist nicht leicht – es braucht dafür einen langen Atem – aber sie zahlt sich dann aus, wenn wir am Ende in einer neuen Präzisionsmedizin der Zukunft landen, in der Krankheiten viel früher erkannt und viel gezielter und erfolgreicher behandelt werden können.
Wie schätzen Sie den Biotech-Standort Deutschland ein? Hat er nicht zuletzt durch den Erfolg der Mainzer BioNTech im Impfstoffbereich an Fahrt gewonnen?
Lanthaler: Deutschland ist nach wie vor – insbesondere im akademischen Bereich – international hervorragend aufgestellt. Doch gerade der Sprung aus dem akademischen in den industriellen Kontext, die sogenannte Translation, ist hier schwieriger als anderswo. Biotech-Leuchttürme wie BioNTech, Morphosys und Evotec zeigen, dass es auch in Deutschland möglich ist, international führende pharmazeutische F&E zu betreiben, aber es gelingt längst nicht auf der gesamten Breite des Spektrums. Das hat viele Gründe. Einer davon ist sicherlich die traditionelle Zurückhaltung hiesiger Risikokapitalgeber insbesondere für frühphasige Forschung, aber häufig scheitert die Translation auch an einer fehlenden Risikobereitschaft der Entwickler:innen selbst, oder realitätsfernen Vorstellungen beteiligter Universitäten. Mit unserem BRIDGE-Modell haben wir einen Inkubator geschaffen, mit dem akademische Forschungsprojekte zunächst auf Evotecs industrieller Plattform validiert werden können. Dann wird es deutlich leichter, sie in die pharmazeutische Entwicklung zu „verpartnern“, oder Risikokapital für eine eigene Ausgründung einzuwerben.
Was macht den Standort Heidelberg so besonders, an dem sich Evotec mit der BRIDGE beLAB2122 engagiert?
Lanthaler: Das besondere an der BRIDGE beLAB2122 ist, dass Evotec hier erstmals nicht nur mit einer einzelnen akademischen Institution, sondern mit fünf absolut erstklassigen Institutionen aus dem Rhein-Main-Neckar-Gebiet kooperiert. Mit Bristol Myers Squibb haben wir zudem einen Partner an unserer Seite, der über die nötigen Ressourcen verfügt, um die akademischen Assets aus dieser Region in der weiteren Entwicklung bestmöglich zu unterstützen. Das erste Projekt, das in dieser BRIDGE entwickelt wird, haben wir kürzlich bekanntgegeben: Es stammt aus dem Deutschen Krebsforschungszentrum („DKFZ“) und der Universität Heidelberg und zielt auf die Entwicklung niedermolekularer Inhibitoren eines Nährstofftransporters, der für das Überleben bestimmter Krebszellen wesentlich ist. Weitere Projekte werden folgen.
Zum Unternehmen
Die Evotec SE mit Hauptsitz in Hamburg ist ein Wissenschaftskonzern mit einem einzigartigen Geschäftsmodell, um hochwirksame Medikamente zu erforschen, zu entwickeln und für Patienten verfügbar zu machen. Mit mehr als 4.000 hochqualifizierten Menschen an 14 Standorten arbeitet Evotec am Aufbau der weltweit führenden „co-owned Pipeline“ innovativer Therapieansätze. Das Unternehmen setzt seine multimodale Plattform, die „Data-driven R&D Autobahn to Cures“ sowohl für die eigene als auch für gemeinsame Medikamentforschung mit Partnern ein. Mithilfe innovativer Technologien sollen first-in-class und best-in-class pharmazeutische Produkte identifziert und entwickelt werden. Zu Evotecs Partnernetzwerk gehören alle Top-20-Pharma- und Hunderte von Biotechnologie-Unternehmen, sowie akademische Einrichtungen und andere Akteure des Gesundheitswesens.