Börsen-Zeitung: Wer wachsen will, muss bleiben können

04. März 2021

Börsen-Zeitung: Wer wachsen will, muss bleiben können Thomas Book, Vorstand Trading & Clearing, Deutsche Börse AG

Titel: Dr. Thomas Book

Global Champions entstehen am Kapitalmarkt - Bessere Rahmenbedingungen und mehr Anreize für die Aktienfinanzierung und die Aktienanlage erforderlich

"Tesla ist mehr wert als die deutsche Automobilindustrie" lauteten die Schlagzeilen im Juni. Spätestens da wurde uns vor Augen geführt, wie der Kapitalmarkt als Wachstumsbeschleuniger funktioniert. Aber wie schaffen wir es, den Kapitalmarkt in Deutschland besser für Wachstum und Innovation zu nutzen?

Die Wachstumsfinanzierung von Unternehmen in der Frühphase hat sich in Deutschland zuletzt zwar erfreulich entwickelt. Doch wenn es um die großen Wachstumsschritte geht, spielen Börsengänge eine viel zu geringe Rolle. Deutschland fällt ganz offensichtlich zurück. Die Wirtschaftsleistung der USA entspricht grob dem Fünffachen von Deutschland, betrachtet man aber den Börsenwert der Unternehmen, so kommt die USA auf beinahe das Zwanzigfache. Und der Abstand wird größer. Um das zu ändern, müssen wir eine Aufbruchstimmung erzeugen und den deutschen Kapitalmarkt wieder stärken - im Interesse von Wohlstand, Wirtschaft und Innovation. Nur so können wir die Transformation in eine erfolgreiche Zukunft meistern.

Ermutigende Statusmeldungen

Es gibt ermutigende Statusmeldungen zu Wachstumsunternehmen in Deutschland und Europa: So hat die Europäische Kommission errechnet, dass europaweit mehr Start-ups gegründet werden als in den USA oder in China. Ein Report der Deutschen Börse und Dealroom zeigt, dass die Chancen, zum Unicorn zu werden, für europäische Start-ups genauso groß sind wie in den USA. Als Aileen Lee den Begriff Unicorn 2013 für Start-ups prägte, die die Milliardenbewertung übersprungen haben, waren diese noch ähnlich rar wie die Fabelwesen. Seither vermehren sie sich rasant. Von 39 im Jahr 2013 auf zuletzt weltweit weit mehr als 500. Und jene Unicorns entwickeln sich mittlerweile auch hierzulande in größerer Zahl: 20 solcher Tech-Start-ups kommen aus der DACH-Region, mehr als 90 weitere haben das Potenzial dazu.

Da diese 20 Unicorns zunächst ausreichend private Mittel erhalten haben, gehen sie erst später an die Börse. Viele andere Unternehmen benötigen jedoch früher Eigenkapital über den Kapitalmarkt, um ihr Wachstum zu finanzieren. Damit das nicht nur mit ausländischem Kapital gelingen kann, müssen wir in Deutschland bessere Rahmenbedingungen für die Wachstumsfinanzierung über die Börse bieten.

Die größten Defizite offenbaren sich bei Firmen, die kurz vor der Börsenreife stehen: Während es in den frühen Phasen noch rund 67 % inländisches Kapital sind, schrumpft der Anteil bei späteren Finanzierungsrunden auf 12 %. Deshalb müssen Start-ups über Europas Grenzen hinausblicken, um sich Kapital zu beschaffen: Jedes dritte deutsche Unternehmen wendet sich an ausländische, meist amerikanische Kapitalgeber.

Konsequenterweise steigt damit auch die Wahrscheinlichkeit auf einen Börsengang im Ausland. Deshalb gilt: Wir müssen Wachstumsunternehmen früher und länger bei der Finanzierung unterstützen und an den deutschen Kapitalmarkt binden. Sonst verliert nicht nur der hiesige Wirtschaftsstandort an Zukunftsfähigkeit, auch der Finanzplatz Frankfurt wird im Wettbewerb um eine europäische Vorreiterrolle geschwächt.

Die Weltwirtschaft ist längst in das Zeitalter der Plattformökonomie eingetreten. Plattformen bestimmen die Wertschöpfung und skalieren über Ökosysteme. Die großen Internetplattformen weisen den Weg, dem viele klassische Industrien wie die Automobilindustrie folgen werden. Die Plattformökonomie wird die Zukunft bestimmen und exponentielle Wertsteigerung bringen. Doch die meisten dieser Ökosysteme sind in den vergangenen beiden Jahrzehnten nicht in Deutschland und auch nicht in Europa entstanden, sondern insbesondere in den USA.

Allein die Big Five in den USA - Apple, Microsoft, Amazon, Alphabet und Facebook - kommen auf eine Marktkapitalisierung von etwa 8 Bill. Dollar; mehr als das Dreifache des Börsenwertes aller gelisteten Unternehmen in Deutschland. Darüber hinaus entwickeln sich am Kapitalmarkt immer neue globale Champions: Uber, Palantir, Zoom, Airbnb, Twitter - um nur einige der über 180 US-Unicorns zu nennen, die bereits "public" gegangen sind und ihr Wachstum am amerikanischen Kapitalmarkt fortgesetzt haben. Zwar gibt es auch Beispiele in Deutschland, wie Delivery Hero oder Teamviewer, doch von diesen Erfolgsgeschichten benötigen wir mehr.

Ernüchternde Lage

Denn aktuell sieht es im internationalen Vergleich ernüchternd aus: Zuletzt gab es mehr Delistings als Börsengänge in Deutschland. Die Zahl der Initial Public Offerings (IPOs) ist zwar seit der Finanzkrise weltweit rückläufig. Aber insbesondere Europa fällt zurück - und in Europa ist es Deutschland. Von weltweit 1 363 IPOs im vergangenen Jahr fanden über 80 % aller Transaktionen in Asien-Pazifik oder den USA statt. Nur 185 IPOs gab es in Europa, in Deutschland waren es gerade sieben. Das sind erschreckende Zahlen für die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt. Vor allem aber kommen zu wenig kleine und mittlere Unternehmen an die Börse.

Für eine starke Wirtschaft mit großen Wachstumsambitionen, die die digitale Transformation meistern will, führt an der Wachstumsfinanzierung über die Aktie kein Weg vorbei: Der Börsengang gibt den direkten Zugang zu Finanzierung, Liquidität und Indizes, in die Assetmanager immer mehr Kapital investieren. Die Börsennotierung bietet aber auch eine Bühne: Sie schafft Präsenz und Wahrnehmung - in Deutschland wie auch international - bei Kunden, Medien und in der breiten Öffentlichkeit. Nicht zuletzt auch bei Talenten und den eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die mit einer Börsennotierung am Unternehmenserfolg beteiligt werden können.

Gute IPO-Aussichten 2021

Wie ein Silberstreif am Horizont erscheint es deshalb, dass die IPO-Aussichten für 2021 gut sind. Das Interesse ist hoch und es gibt eine Vielzahl an aussichtsreichen Börsenkandidaten - darunter Schwergewichte wie auch junge Unternehmen. Diese Börsengänge brauchen wir dringend, damit der deutsche Kapitalmarkt nicht an Bedeutung verliert, sondern wieder wächst und sich weiter belebt. Denn mit jedem deutschen Unternehmen, das sich für einen Börsengang in New York oder Schanghai entscheidet, orientieren sich nicht nur die Unternehmer ins Ausland. Auch die deutschen Anleger verlieren ein Stück Zukunft. In Deutschland genährte Start-ups finanzieren sich dann über ausländische Börsen und Kapitalmärkte - und die Anleger dort profitieren.

Jedes neue Unternehmen am Kapitalmarkt ermöglicht Anlegern schließlich die direkte Beteiligung am Erfolg - und damit die Möglichkeit, Vermögen aufzubauen und Wohlstand zu generieren. Im internationalen Vergleich ist die Aktionärsquote in Deutschland immer noch niedrig, auch wenn durch neue Zugangsmöglichkeiten wie Neobroker und Exchange-Traded-Funds (ETF)-Sparpläne immer mehr Menschen Interesse am Kapitalmarkt zeigen. Ein Großteil der Haushalte bleibt dennoch von der renditeorientierten Vermögensbildung abgeschnitten.

Kein gutes Zeugnis

In Schweden besitzt mehr als jeder zweite Haushalt Aktien, in den USA ebenso. Bei den institutionellen Anlegern sieht es ähnlich trüb aus: Deutsche Investoren legen nur 25 % der Assets in Aktien an. Weit hinter Schweden mit 59 %, Norwegen mit 51 % oder auch den Niederlanden mit 32 %. Das ist kein gutes Zeugnis für Deutschland.

Veraltete Rahmenbedingungen

Unter den aktuellen, inadäquaten Rahmenbedingungen ist das nicht überraschend: Sparbuch und Tagesgeld, umlagefinanzierte Rente, Beitragsgarantien in der Altersvorsorge, steuerliche Nachteile für die Aktie. Wenn wir langfristiges Kapital in Deutschland und Europa mobilisieren wollen, sollten wir von den Strategien und dem Erfolg anderer Länder lernen: In vielen Nationen fußen Vermögensbildung und Altersvorsorge auf dem Kapitalmarkt. Riesige Pensionsfonds sind entstanden, die lukrative Geldanlagen am Kapitalmarkt suchen und finden. In Norwegen wird das Staatsvermögen renditestark über Staatsfonds am Kapitalmarkt vermehrt.

Das international anlagesuchende Kapital kommt nach Deutschland und investiert in die hiesigen Unter-nehmen. Der Erfolg und die hohen Renditen werden dadurch ins Ausland exportiert. Beides bleibt nicht dort erhalten, wo die Wertschöpfung entsteht - und auch nicht denen, die die Wertschöpfung generieren. Schlimmer ist nur noch, wenn kapitalsuchende Unternehmen gleich ins Ausland gehen und Arbeitsplätze mitnehmen. Natürlich geht es nicht darum, ausländisches Kapital auszuschließen. Wir können und dürfen aber den Fortschritt in Europa nicht von ausländischen Finanzierungsquellen abhängig machen.

Potenzial entfalten

Damit sich dieser Trend umkehrt, brauchen wir bessere Rahmenbedingungen und mehr Anreize für die Aktienfinanzierung und die Aktienanlage in Deutschland und in Europa. Wir müssen ein Umfeld schaffen, in dem Unternehmen Zugang zu mehr inländischem Kapital über die Börse erhalten. Wir müssen den Börsengang als Wettbewerbsfaktor erster Güte begreifen. Eine Alternative gibt es nicht, um die Zukunftsfähigkeit unserer Wirtschaft sicherzustellen.

An einer Abneigung von Unternehmerinnen und Unternehmern gegenüber dem Aktienmarkt liegt es wohl kaum. In Deutschland ist in den zurückliegenden Jahren eine neue Generation von Gründern entstanden, die mit dem privaten Kapitalmarkt groß wird: Seedkapital, Finanzierungsrunden, Förderprogramme, Risikokapital - das sind feste Bestandteile der Unternehmensstrategie. Doch die Rahmenbedingungen des deutschen Kapitalmarkts erscheinen oftmals unattraktiver als das Bangen von Finanzierungsrunde zu Finanzierungsrunde. Und auch das Interesse der jungen Generation an der Vermögensbildung über den Kapitalmarkt scheint zu steigen. Von dieser Demokratisierung der Aktienanlage muss auch der deutsche Kapitalmarkt profitieren.

Was sich für den ein oder anderen lesen mag wie interne Aufgabenstellungen des Finanzplatzes, sind de facto existenzielle Themen der Realwirtschaft. Alles, was den deutschen Primärmarkt und Aktienmarkt positiv beeinflusst, ist elementar für die Innovationsfähigkeit, für Wachstum und für den Erhalt von Arbeitsplätzen in Zeiten der Internetökonomie. Und damit auch für den Wohlstand in unserer Gesellschaft. Deutschland hat die Ideen, die Innovationen, die Talente. Doch nur wenn es uns gelingt, einen starken Kapitalmarkt und eine Kultur von langfristig orientierten Aktionären aufzubauen, werden wir neue Ökosysteme schaffen. Ökosysteme, die wir dringend brauchen, um langfristig neue Global Player hervorzubringen.

Die Deutsche Börse stellt sich diesen Herausforderungen, um den deutschen Kapitalmarkt weiter zu beleben und um Unternehmen die erforderlichen Alternativen zur Wachstumsfinanzierung anzubieten. Das allein reicht aber nicht aus. Im November 2019 hat das Bundeswirtschaftsministerium die Nationale Industriestrategie 2030 formuliert, die das Ziel hat, neue nationale und europäische Champions zu schaffen. Das kann nur gelingen, wenn wir mit Unterstützung der Politik auch eine breit angelegte Nationale Kapitalmarktstrategie auf den Weg bringen.


Thomas Book, Vorstand Trading & Clearing der Deutsche Börse AG. Der Artikel erschien zuerst in der Börsen-Zeitung vom 04.03.2021.